Das Foto zeigt Dr. Sigrid Fahrer. Sie ist Projektmanagerin und Leiterin des Entwicklungsbereichs „Digitales Lesen“ bei der Stiftung Lesen. Media Smart hat mit ihr über das Potenzial von Kinderbuch-Apps für die Leseförderung gesprochen.

Dr. Sigrid Fahrer ist Projektmanagerin und Leiterin des Entwicklungsbereichs „Digitales Lesen“ bei der Stiftung Lesen. Die Stiftung Lesen tritt für eine Gleichwertigkeit aller Medien ein und zeigt sich insbesondere den digitalen Lesemedien gegenüber offen. Mit Dr. Fahrer sprachen wir über das Potenzial von Kinderbuch-Apps für die Leseförderung und über ihren Einsatz in der Praxis.

Media Smart e. V.: Was genau ist eigentlich unter einer Kinderbuch-App zu verstehen?

Fahrer: Neben Spielen, Lernhilfen, Mal- und Bastelprogrammen gibt es zahlreiche Bücher- und Geschichten-Apps im Angebot. Diese digitalen Lesewelten bieten altersgerecht aufbereitete Sachthemen und animierte Geschichten, zum Beispiel bekannte Bilder- und Kinderbücher, die mit interaktiven Elementen, Musik, Geräuschen, kleinen (Zusatz-)Spielen, Vorlese- und Kreativfunktionen angereichert sind. Die Genregrenzen sind dabei fließend. So gibt es Spiele-Apps mit kleinen Lesepassagen und Kinderbuch-Apps mit integrierten Spielen, je nach Gewichtung der Textanteile. Aus der Fülle von Angeboten das Richtige für ein Kind zu finden, ist nicht immer so einfach: Welche Apps gibt es? Für welches Alter sind sie geeignet? Woran erkenne ich eine gute App? Sind Bücher- und Geschichten-Apps kindersicher? Das sind Fragen, mit denen Pädagogen und Eltern an uns herantreten. Die Stiftung Lesen möchte hierbei Orientierung und Hilfestellung geben und ermutigen, mit den digitalen Lesemedien Lesefreude und Lesespaß bei den Kindern zu wecken. Unter digitale-lesewelten.de zeigen wir deshalb Empfehlungen von Bücher- und Geschichten-Apps sowie Tipps zum Einsatz von digitalen Lesemedien.

Media Smart e. V.: Wie sollte Ihrer Meinung nach eine gut gemachte Geschichten-App aussehen?

Fahrer: Das Besondere an den Geschichten-Apps sind die interaktiven Elemente, die entdeckt werden wollen. So gibt es auf fast jeder Seite so genannte Hotspots, hinter denen sich Animationen, Geräusche, zusätzliche Textinformationen oder kleine Aufgaben verbergen. Im Idealfall sind diese interaktiven Elemente sinnvoll in die Geschichte integriert und weisen einen engen Bezug zur Handlung auf. Sie können beim Lesen das Gefühl vermitteln, den Verlauf der Geschichte mitzubestimmen und ermöglichen ein hautnahes Miterleben, wenn man Aschenputtel bei der Hausarbeit helfen kann oder wenn sich der virtuelle Atlas wie ein Globus drehen und mit dem Finger per Zufall anhalten lässt. Diese emotionale Komponente ist nicht zu unterschätzen in ihrer Bedeutung für das Lesen und für die Lesemotivation. Leider sind nicht in allen Fällen die interaktiven Elemente mit dem Inhalt der Geschichte verknüpft. So gibt es Spiele, die eine Geschichte unterbrechen oder Figuren, die, mit dem Finger angetippt, lediglich wackeln oder ein Quietschgeräusch von sich geben, ohne dass dies von der Geschichte motiviert ist. Diese dekorativen Ornamente lenken nur ab und können sogar dazu führen, dass sich Kinder schlechter an das Gelesene erinnern können, wie amerikanische Forscher herausgefunden haben. Erwachsene sollten eine App nach diesen Gesichtspunkten genau unter die Lupe nehmen und bei Bedarf die spielerischen Zusatzelemente ausschalten oder dem Kind erst nach dem Lesen zur Verfügung stellen. Gerade die Fülle der interaktiven und multimedialen Elemente, die nicht vollständig beim ersten Betrachten entdeckt werden, regen aber dazu an, die Apps mehrfach zu betrachten – was wiederum eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Lesemedium bewirken kann.

Media Smart e. V.: Worauf sollten Eltern und Pädagog*innen bei der Auswahl und Nutzung achten?

Fahrer: Sie sollten eine Geschichten-App in punkto Kindermedienschutz prüfen, bevor sich das Kind damit beschäftigt. Viele Apps beinhalten Werbung wie Hinweise auf weitere Produkte des Anbieters. Mit einem Klick können Kinder dabei auf Internet-Verkaufsportale oder Seiten für Erwachsene gelangen. Ein Augenmerk ist ebenfalls auf folgende Aspekte zu richten: Wird auf die Kinder mit der Werbung unterschwellig Druck ausgeübt? Werden die Kinder direkt zum Kauf aufgefordert? Oder handelt es sich um Leseproben einer Geschichten-App, die an einer spannenden Stelle abbricht und so einen Kaufanreiz bietet? Wird das Kind aufgefordert, die Geschichten-App zu bewerten oder bei sozialen Netzwerken seinen Freunden vorzuschlagen? Ist das der Fall, empfiehlt es sich zunächst in den Geräteeinstellungen den Zugriff auf das Internet auszuschalten und so diese Funktionen zu deaktivieren. Zudem ist es ratsam, das Gespräch über Werbung zu suchen und die App zu deinstallieren, wenn sie zu viele bedenkliche Features aufweist. Erwachsene setzen Bücher- und Geschichten-Apps auch gerne ein, um Kindern die Möglichkeit zu geben, sich alleine mit Geschichten zu beschäftigen. Dafür ist es besonders wichtig, am Ausgabegerät die empfohlenen Kindersicherungseinstellungen vorzunehmen und die App im Hinblick auf Überladenheit und ablenkende Spiele im Vorfeld zu prüfen. Zudem gilt: Je intuitiver die Menüführung bzw. Bedienbarkeit der App und je aussagekräftiger die Steuerungsicons, desto leichter fällt es Kindern, eine App selbstständig zu erschließen. Ideal sind dafür ein Vor- und Zurück-Button, eine Gesamtübersicht der einzelnen Seiten, visuelle Hilfestellung beim Auffinden der Hotspots und ein vorgeschaltetes Audio- Tutorial.

Media Smart e. V.: Wie lassen sich Kinderbuch-Apps am besten einsetzen?

Fahrer: Auch wenn Kinder Apps gerne selbstständig nutzen, sollten Eltern und Pädagogen immer für Gespräche über die Medienerfahrung von Kindern zur Verfügung stehen. Das gilt natürlich auch für Bücher- und Geschichten-Apps. So wird nicht nur eine Reflexion über das Gelesene gefördert, sondern zudem lernen die Erwachsenen die Medienvorlieben der Kinder kennen. Viel gemütlicher und auch nachhaltiger für die familiäre „Literacy-Erziehung“ ist es natürlich, wenn sich alle gemeinsam eine Bücher- und Geschichten-App ansehen – gerade, wenn die Kinder jünger sind. Wie beim gemeinsamen Betrachten eines Printbuchs sollten sich hierbei (Vor-)Lesen und Erzählen abwechseln und Gesprächen über die Geschichte viel Raum gegeben werden. Da die multimedialen und interaktiven Elemente wichtige Bestandteile einer Bücher- und Geschichten-App sind, sollten diese in die App-Betrachtung einbezogen werden. Was passiert hier? Was erfährt man durch diesen Hotspot Neues? Was könnte jetzt passieren? Wie hast du dir das vorgestellt? Diese und ähnliche Fragen gehören zu einem dialogischen Vorlesen dazu, das sich auch mit Bücher- und Geschichten-Apps hervorragend praktizieren lässt und so Lesefreude weckt.

Media Smart e. V.: Und abschließend noch eine letzte Frage. Haben Sie eigentlich auch eine Lieblings-App?

Fahrer: Lieblings-App, hm, das ist ganz schön schwer zu beantworten, es gibt so viele schöne und interessante Produkte. Besonders beeindruckt hat mich die App David Wiesner’s Spot, eine App, die ganz ohne Text auskommt, dafür aber ungemein zum gemeinsamen Erzählen anregt. Die Punkte auf dem Rücken eines Marienkäfers sind der Einstieg zu ganz fantastischen Welten, mit denen man sich ganz lange beschäftigen kann.

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